Nach insgesamt 13 Proben war es am 29. März soweit: Mit etwa 750 anderen Laiensänger:innen aus Sachsen und ganz Deutschland stand ich auf der Tribüne in der Messe Chemnitz und verlieh dem großen Chor des Martin Luther King Musicals meine Stimme. Es war wohl für alle ein besonderes Erlebnis im Rahmen der Kulturhauptstadt Europas 2025 gemeinsam mit Dutzenden Profi-Künstler:innen zu musizieren. Einige Eindrücke eines wundervoll wohlklingenden Wochenendes.
Ein beeindruckender Ausblick von der Chortribüne
Es ist der Vorabend der großen Aufführung. An der Messe Chemnitz sind die Parkplätze gut gefüllt. Und das obwohl gar keine Veranstaltung stattfindet. An die Neefestraße lockt die Generalprobe des Martin Luther King Musicals. Erstmals üben die 1.500 Chorsänger:innen der beiden Vorstellungen mit den professionellen Musiker:innen. Dass mich das vor so manche Herausforderung stellen wird, ahne ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Doch von vorn.
Mit Spannung, aber auch einer gehörigen Portion Vorfreude durchquere ich das Foyer der Veranstaltungshalle. Vorbei an den Tribünen und großen schwarzen Vorhängen erreiche ich das große Chorpodest. Zwei Treppen führen hinauf zu den Sitzplätzen des vierstimmigen Chores. Schnell erkenne ich meine Mitstreiter im Tenor, die in der Lutherkirche für den großen Auftritt geprobt haben. Wir sitzen in der zweiten Reihe und haben so einen guten Blick auf die Bühne. Die Instrumente der Big Band stehen bereit und auch die markanten Würfel des Bühnenbilds lassen sich erkennen. Nach wenigen Minuten betreten Marko Koschwitz und Lukas Petschowsky ihre leicht erhöhten Podien an den Ecken der Bühne.

Das Einsingen beginnt. Laute und leise Töne klingen durch die Messehalle. Ich bekomme das erste Mal Gänsehaut. Als die Stimmen warm sind, kommen unter Applaus die professionellen Musiker:innen auf die Bühne. Doch bevor die Generalprobe beginnt, erhalten wir Instruktionen zu den kleinen Choreografien innerhalb des Musicals. Und die haben es in sich. Denn nahezu jede Bewegung, die wir in den Proben mühselig einstudiert haben, wird angepasst. Schritte entfallen, neue Gesten kommen hinzu. Ich merke wie auch die anderen Mitsänger:innen verwirrt sind. Doch der Gesamtdurchlauf soll Licht ins Dunkel bringen.
Von einem strapaziösem Durchlauf mit einigen Herausforderungen
Die Ouvertüre beginnt. Kreisende Scheinwerfer sorgen auch auf Seite des Chores für Wow-Effekte. Direkt hinter dem Schlagzeug sitzend, gehen die anderen Instrumente fast schon unter. Aber so ist das mit dem Klang auf Bühnen. Gut dass wir sogenannte Monitore haben. Lautsprecher über unseren Köpfen geben den Gesang der Solisten wieder. Der erste Choreinsatz ist jedoch geprägt von Unsicherheit. Denn ich höre die anderen Singstimmen kaum. Selbst meine eigene wird von umgebenden Klängen übertönt. Eine komplett neue Erfahrung. Ferner lenkt die Handlung auf der Bühne so stark ab, dass mit dem letzten Quäntchen Konzentration aus der Arbeitswoche ein fehlerfreier Durchlauf nur schwer realisierbar ist.
Doch gerade die unzähligen Gänsehautmomente während des gemeinsamen Musizierens mit dem Megachor und der Big Band entschädigen für die Strapazen an diesem Freitagabend. Beschwingte Titel mit Dynamik‑, Tempo- und Tonartwechsel lassen unsere Körper tanzen. Innerlich und äußerlich. Es ist eine wahre Freude die Früchte der investierten Probenzeit zu ernten. Wenngleich im Zuschauerraum nur der 14-Uhr-Chor sitzt. Und schlussendlich funktionieren die Choreografien der Songs “Wo ist der Mann meiner Träume?”, “I got shoes” und “Es ströme das Recht wie Wasser” besser als gedacht.

In der Pause durchquere ich mit den Sänger:innen des 20-Uhr-Chors das weitläufige Foyer und erhalte ein Exemplar das Programmheftes. Darin finde ich nicht nur Informationen zu den Künstler:innen und Komponisten, sondern auch eine Liste aller Teilnehmenden. Mit Stolz, aber auch Demut denke ich mir, wie toll es doch ist, dass so viele Individuen an einem Strang ziehen für ein großes Ganzes. Selbst aus der Region Bodensee und Nordrhein-Westfalen sind Sangesfreudige für dieses Event nach Chemnitz gekommen, wie ich bei einem Gespräch erfahre.
Endlich angekommen in der Musicalwelt
Im zweiten Teil des Durchlaufs sitze ich gemeinsam mit hunderten anderen Stimmen im Zuschauerraum. Nun darf der 14-Uhr-Chor den Ausblick vom Podium genießen – und wir die imposante Chorwand. Ein beeindruckendes Bild. Davor die Big Band und ein wechselndes Bühnenbild aus dem monochromen Konterfei von Martin Luther King, der US-amerikanischen Flagge und einer Backsteinmauer. Als dann die Musical-Darsteller:innen auftreten, erahne ich das erste Mal das stimmliche Potential. Besonders Karolin Konert, die die Heilige Geisten verkörpert, begeistert mit ihrer engelsgleich klaren Stimme. Aber auch Gino Emnes überzeugt als Martin Luther King.
Spätestens als Titel wie das melancholische „Damals“ oder das kraftvolle „I got a robe“ mit seiner energiegeladenen Choreografie erklingen, sind wir alle in der schillernden Musical-Welt angekommen. Mittlerweile ist es kurz nach 22 Uhr, als mit „Auch unser Traum“ das große (Proben-)Finale erklingt. Obwohl ich meine Stimmbändern an diesem Abend nicht über Gebühr belastet, spüre ich die Beanspruchung. Als dann die letzten Instruktionen besprochen sind, bin ich froh, endlich nach Hause fahren zu können.

Mit Hochspannung zur großen Aufführung
Es ist der Tag der (Musical-)Tage. Endlich trete ich gemeinsam mit 750 anderen Stimmen in einem großen Musicalchor auf. Die Spannung steigt schon jetzt ins Unermessliche. Bereits 150 Minuten vor Beginn der Show treffen wir uns zum letzten Warm-Up auf der Tribüne. Ich kämpfe mich durch ein Meer von schwarz gekleideten Menschen und eile zu meinem Platz in der zweiten Reihe. Ein imposantes Bild ergibt sich. Kleider machen bekanntlich Leute und so steht unser Laienchor optisch einem professionellen Chor in Nichts nach. Letzte Hinweise helfen den Puls zumindest etwas zu senken und sorgen für stimmliche Sicherheit.
Kurz vor der Aufführung freue ich mich Familie und Freunde im großen Publikum zu begrüßen. Schön, dass man solch einmalige Momente teilen kann. Auch mit etwas Stolz berichte ich von den Erlebnissen der letzten Tage und versuche mich so abzulenken. Doch die Nervosität steigt. Der Höhepunkt ist 20 Uhr erreicht, als nach einer kurzen Einleitung die ersten Töne der Big Band erklingen. Meine Hände sind nasskalt. Immerhin lauschen 4.000 Menschen dem Musical. Mit den ersten gesungenen Noten schwindet die Aufregung dann zumindest etwas. Im warmen Scheinwerferlicht lockern sich die verspannten Muskeln. Der aufbrandende Applaus zwischen den Stücken feuert zusätzlich an.
Fast schon ungeduldig warte ich auf die ersten Choreografien. Das abwechselnde Schunkeln zu Coretta Scotts „Wo ist der Mann meiner Träume?“ gelingt bravurös. Dafür ist das Klatschen zu „I got shoes“ mit so einigen Unsicherheiten behaftet. Und eine neue Herausforderung kommt dazu: Das schummrige Licht erschwert das Lesen der Solo-Noten in der Chorpartitur. Konzentration ist gefragt. Doch schneller als gedacht erreichen wir mit dem Titel “Ich hab den Traum”, einem Manifest für die Gleichberechtigung aller Menschen, das Ende des ersten Teils. Unter Gänsehaut gehe ich gemeinsam mit den anderen begeisterten Chor-Gesichtern in die wohlverdiente Pause.

Das Herz auf der Zunge und die Welt auf den Händen
Der zweite Teil des Martin Luther King Musicals beginnt dem zweifelndem Stück “Ob es sich lohnt”. Zumindest mit Blick auf die Mühen für das Einstudieren des Werkes von Hanjo Gäbler, Christoph Terbuyken und Andreas Malessa kann ich sagen: Ja! Die Einsätze kommen auf den Punkt und ich fühle mich wohl. Als es um Kings Besuch in der DDR geht, sorgen Scherze für Lacher und eine gehörige Portion Lockerheit – auch auf der Chortribüne.
Der Höhepunkt des Leben und Wirkens Martin Luther Kings, die Verleihung des Friedensnobelpreises in Oslo, nimmt auch innerhalb der Show einen besonderen Stellenwert ein. Das opulente “I got a robe” gipfelt in einem instrumentalen Solo, während dem ein großer luftgefüllter Erdball die Halle durchwandert.

Viel zu früh erreichen wir mit der Reprise von “We shall” und dem großen Finale “Auch unser Traum” das Ende des bedeutungsschwangeren Musicals. Darin heißt es “Im November ist noch nicht zu seh‘n, dass im Frühling hier die Bäume blüh‘n. Dass nach Schnee und Eis der Weizen sprießt. Wer nicht glaubt, wer nicht hoffen kann, ist kein Realist.“ Worte, die in diesen außergewöhnlichen Zeiten in die Herzen gehen und eine mutmachende Stimmung verbreiten. Im Chor und im Publikum.
Als dann die letzten schwergewichtigen Töne erklingen, blicke ich wehmütig auf ein besonderes Projekt zurück. In kleiner Besetzung, aber auch im großen Rund war die Probenzeit einmalig. All die Freude lege ich – wie auch alle Mitstreiter:innen – in das mannigfaltige Zugaben-Medley. Das Publikum jubelt und tobt. Momente, von denen wir Chorsänger:innen, aber auch die professionell Musizierenden wochenlang zehren werden. Denn diese Aufführung sollte nach mehr als 50 Vorstellungen auch die letzte überhaupt sein. Alles hat eben ein Ende. Außer die Hoffnung.

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