Nachdem im letzten Jahr des Demokratie-Festival in der drittgrößten Stadt Sachsens ausfiel, kam es nun am zweiten Juni-Wochenende zur großen Generalprobe für 2025. Dem Jahr, in welchem Chemnitz die Kulturhauptstadt Europas ist. Ich war auf dem Gelände um den Schlossteich mit der Kamera unterwegs. Einige Eindrücke eines Tages voller Körperertüchtigung, Kunst und Kultur.
Mehr als 150 Programmpunkte laden an den Schlossteich Chemnitz
Es ist Mittag, der 08. Juni 2024. Im Zenit der Sonne beginnen rund um den Chemnitzer Schlossteich ereignisreiche Stunden. Dutzende Akteur:innen der bunten Stadtgesellschaft laden wir einmal ein zum oder besser in den Kosmos Chemnitz. Der Name ist auch in diesem Jahr Programm. Denn an den insgesamt 32 Stationen lassen sich mehr als 150 Programmpunkte zählen. Wow! Etwas überfordert beginne ich meine Reise über das sommerlich grüne Areal. Immer mit dem Hintergedanken etwas interessantes zu verpassen. Heutzutage redet man wohl von FOMO – Fear Of Missing Out.
Mein erster Halt auf dem weitläufigen Gelände gilt der Diskussion zum Thema „Was können wir jetzt tun, um gegen Rechtsruck aktiv zu werden?“ an den Schillingschen Figuren. Mit dabei sind Polit-Youtuber Tilo Jung (Jung & Naiv), Melanie Stein (Wir sind der Osten) und Philipp Ruch (Zentrum für politische Schönheit – ZfpS). Einen Tag vor der Europawahl und drei Monate vor der Landtagswahl ein brisantes Thema. Alle drei sind sich einig, dass der Fokus in der Berichterstattung auf Lösungen und nicht nur auf Probleme liegen sollte.
Während Tilo Jung im Journalismus immer auch eine Prise Aktivismus und Subjektivität sieht, verteidigt Melanie Stein den objektiven Journalismus. Von beidem grenzt sich Philipp Ruch ab und sagt, dass sein ZfpS eigentlich staatliche Aufgaben übernimmt. Sein Ziel ist nicht die Demokratie zu stärken, sondern Parteien wie der rechten Partei AfD „den Garaus zu machen“. Tilo Jung fügt hinzu, dass wir uns als Zivilgesellschaft vom Durchhaltevermögen der Rechtsextremen ein Beispiel nehmen sollten. Die Proteste im Frühjahr verebbten bekanntlich schnell. Philipp Ruch hebt die Notwendigkeit von Recherchen und heimlichen Mitschnitten hervor, die für Aufmerksamkeit und somit für einen Aufschrei in der Gesellschaft sorgen. Wir dürfen also auf die nächsten Aktionen des ZfpS gespannt sein.
Hoch hinaus auf der längsten Slackline Deutschlands
Nicht überse(e)hbar ist die beeindruckende Highline zwischen Plattenbau und Schlosskirche, auf der waghalsige Menschen rund 50 Meter über den Schlossteich balancieren. Mit 660 Metern ist sie mit diesem Tage die längste Slackline Deutschlands. Ein beeindruckendes Bild für die Geschichtsbücher. Nicht weniger gewagt geht es im angrenzenden Konkordiapark zu: Neben einem Wettbewerb im Breakdance finden ein BMX- sowie Parkour-Contest statt. Waghalsige Sprünge und Tricks inklusive. Glücklicherweise ohne größere Verletzungen.
Weniger Nervenkitzel gibt es beim Yoga auf der Schlossteich-Insel. Im Schatten der Bäume lässt sich die warme Mittagssonne herrlich genießen. Wobei „fraulich“ hier besser passen würde: Schade, dass die Art der Entspannung zum Großteil von Frauen angenommen wird. An den zahlreichen Bastelstationen lassen währenddessen die Kinder ihrer Fantasie freien Lauf. Andere Tollen auf dem angrenzenden Spielplatz. Und auf der Meile der Initiativen lernen alle über Generationen hinweg, wie man eine bunte, plurale Gesellschaft gestalten und erreichen kann.
Regionale Bands sorgen für einen stimmungsvollen Nachmittag
Die großen Magneten des kostenlosen Festivals sind, wie in den vergangenen Ausgaben auch, die musikalischen Acts. Auf dem etwa einen Quadratkilometer großen Gelände des Kosmos 2024 sind zehn verschiedene Bühnen verteilt. Ob Rap, Techno, Rock oder Pop: Für jeden Geschmack lässt sich ein Plätzchen finden. Meine musikalische Reise beginnt an diesem Tag bei der regionalen Band Me&T, einem internationalem Pop-Duo, das in Chemnitz seine Heimat gefunden hat. Das Pastorenehepaar begeistert in feiner Pop-Manier die Zuhörenden. Ich mag die spitze Singstimme von Tamara im Stile von CHVRCHES. Auf der Bühne des Chemnitzer Bandbüro spielen anschließend Suralin, die ich dem Indie-Genre zuordne. Die routinierte Band, die in diesem Jahr ihr 15-jähriges Bestehen feiern darf, präsentiert Songs aus mittlerweile fünf Alben.
Entlang des Schlossteiches lassen sich zwei DJ-Hütten und die Bassbühne finden. Letztere zieht mit feinstem Drum & Bass in ihren Bann. Vor zehn Jahren wäre ich hier wohl länger verweilt. Mittlerweile finde ich die Musik auf Dauer zu stressig und bewege mich hinauf auf den Schlossberg. Dort im weiten Rund des Parks neben der Schlosskirche lausche ich der extrovertierten Punk-Band Acht Eimer Hühnerherzen. Auch wenn die flotte Musik eher zum Tanzen einlädt, nehme ich das Angebot der Treppen und Bänke dankend an. Denn mittlerweile hinterlassen die weiten Wege und die warme Sommersonne ihre Spuren. Während an den großen Getränkeständen die Verpflegung reibungslos funktioniert, sind 20 Minuten Wartezeit an den Essensausgaben an der Tagesordnung. Lange Pausen schrumpfen auf ein Minimum.
Problematisch wird es dann, wenn sich hörenswerte Künstler:innen auch noch überschneiden. Dann rächen sich die langen Wege – wie bei Soffie, Silbermond, Boys Noize und Megaloh. Sie spielen in den Abendstunden nahezu zeitgleich, sodass ein Hören nicht möglich oder mit ganz vielen Schritten verbunden ist. Trotzdem lasse ich es mir nicht nehmen der Newcomerin Soffie, deren Doppel-F im Namen für das musikalisch laute Fortissimo steht, für einige Songs zu lauschen.
Musikalische Höhepunkte sind Silbermond und Culcha Candela
Von der talentierten Soffie, die mit ihrem Protest-Song „Frühling“ Anfang des Jahres kometenhaft aufstieg, führt der Weg deshalb im Stechschritt zur Hauptbühne und der Bautzner Band Silbermond. Tausende Fans stimmen bereits in die ersten Songs ein. Alle Smartphones sind auf die Jungs um Frontsängerin Stefanie Kloß gerichtet, als sie den Titel „Mein Osten“ einstimmt. Unter den Filmenden befinden sich viele Kinder und Jugendliche, die Kloß aus TV-Shows wie „The Voice Kids“ oder „Sing meinen Song“ kennen. Auch sie nutzt die Bühne, um zum Kampf gegen den Rechtsextremismus aufzurufen.
Etwas basslastiger geht es währenddessen rings um die Hör-Stage auf der Schlossteich-Insel zu. Der Berliner DJ Alexander Ridha, bekannt als Boys Noize, gibt seine Tracks zum Besten. Der Ansturm ist so groß, dass die Zugänge über die beiden Brücken währenddessen gesperrt werden. Das ist wohl auch hinsichtlich der ausbaufähigen Toilettensituation das Beste. Mir bleibt also nur der Blick aus der Ferne. Dafür gibt‘s mit Megaloh auf der Bühne auf der Hundewiese eine würdige Alternative, die deutlich weniger überlaufen ist. Der deutsche Rapper niederländisch-nigerianischer Abstammung wirbt für Völkerverständigung. In seiner gewohnt eloquenten Art grenzt er sich von Genre-Kollegen mit derber Sprache ab. Die Fans quittieren das mit Applaus.
Der große musikalische Headliner an diesem Abend ist die Berliner Band Culcha Candela. So bunt wie die Bühne ist auch ihr Genre-Mix zwischen Reggae, Dancehall, Hip-Hop und Rap. Songs wie Berlin City Girl, das kurzerhand in Chemnitz City Girl umgetextet wird, oder Schöne neue Welt bringen die Menge zum Toben. Auch neue Songs vom Album „Zu wahr um schön zu sein“ haben die fünf Jungs im Gepäck. So richtig springt der Funke bei mir jedoch nicht über. Das mag an der schlechten Percussion-Abmischung liegen. Vielleicht aber auch, weil die Band musikalisch irgendwie in 2014 stehen geblieben sind. Trotzdem oder gerade deshalb gehe ich danach gern nach Hause. Mit neuen Eindrücken und vor allem neuen Impulsen für den Alltag. Fazit: Chemnitz kann Kulturhauptstadt.