Es ist der Wonnemonat Mai und endlich grünt die Natur wieder. Auch die diesjährige Kulturhauptstadt Europas Chemnitz erstrahlt in vielfältigen Frühjahrsfarben. Bunte Graffiti verwandeln triste Häuserwände in kleine Kunstwerke. Besonders an grauen Tagen. Ich habe mich in der Stadt auf Motivjagd begeben.
Streetart aus einem Armenviertel in die Welt
Wandmalereien gibt es schon Tausende von Jahren. Doch erst in den 1970ern wurde daraus Kunst. In New York begannen Künstler:innen ihre Werke auf Häuserfassaden und U‑Bahn-Waggons zu sprayen. Ausgerechnet Kinder und Jugendliche im maroden Stadtteil Spanish Harlem sollten mit ihren Malereien in stillgelegten Fabriken und vernagelten Gebäuden für die Entwicklung einer ganzen Kunstszene sorgen. Einer dieser Menschen war der Grieche „Taki 183“, der als Postbote sein Kürzel auf den Wänden hinterließ. Das sogenannte „Writing“ war geboren.
Durch einen Zeitungsartikel wurden auch US-amerikanische Kunstschaffende auf das Thema aufmerksam. Sie entwickelten die Kritzeleien zu Kunst weiter. Unter dem Begriff der Streetart verwandelten sich ganze Wände in farbenfrohe Meisterwerke. In den 1980er Jahren fand die Pop-Art-Kunst den Weg in Museen und Galerien. Die wohl bedeutensten Kunstschaffenden waren Keith Haring und Jean-Michel Basquiat. Im Mittelpunkt der Gesellschaft angekommen, fand die suburbane Graffiti-Kultur den Weg in die verwinkelsten Ecken der Erde. So auch nach Deutschland und natürlich Chemnitz.
Detailreiche Kunstwerke zwischen Hauptbahnhof und dem Brühl
Ausgangspunkt für die Erkundung an diesem trüben Frühlingsnachmittag ist der Chemnitzer Hauptbahnhof. Unweit am Fuße des Sonnenbergs findet sich das überdimensionale Konterfei des Holocaust-Überlebenden Justin Sonder. Er erblickte am 18. Oktober 1925 in Chemnitz als Kind jüdischer Eltern das Licht der Welt und starb am 3. November 2020 ebenda. Als einer der wenigen Überlebenden des KZ Auschwitz galt er als einer der wichtigsten Zeitzeugen der barbarischen NS-Diktatur. „Ich sollte überleben“ steht in großen Lettern an der Fassade in der Glockenstraße geschrieben. Der Thüringer Graffitikünstler Falk Lehmann alias „AKUT“ hat ihm damit ein würdiges Denkmal bereitet.
Vorbei an der Technischen Universität und dem alten Omnibusbahnhof, stellt das Kunstwerk an der Kreuzung zwischen Karl-Liebknecht-Straße und Georgstraße, am Rande des Schillerplatz, den nächsten Zwischenstopp dar. In Pop-Art-Manier ergeben runde und eckige Formen ein großes, buntes Mosaik. Unterhalb erregen im Kontrast dazu detailreiche Mauerzeichnungen die Aufmerksamkeit. Nur wenige Meter weiter erreichen wir den Brühl-Boulevard. Rund um die ehemalige Flaniermeile ist es an diesem Tag ruhig. Vögel zwitschern von den Bäumen zwischen den Plattenbauten. An einem lässt sich ein kunterbuntes Graffiti mit lebensfroh lachenden Kindern erkennen. Die gute Laune steckt an.
Beim Eintreten in die breite Fußgängerzone fallen allerhand Fahrräder ins Auge. Unter den mit Blüten geschmückten Bäumen erzeugen sie eigene kleine Kunstwerke. An der Kreuzung zur Elisenstraße erreichen wir den charakteristischen „ZUHAUSE“-Schriftzug. Doch nicht er lässt aufmerken, sondern die vom hier ansässigen Kunstunternehmen „Rebel-Art“ hübsch gemalten Murale an den alten Fassaden. Wir sollten noch später von den Künstler:innen sehen.
Kunstvoller Streifzug durch das Studentenviertel Bernsdorf
Ortswechsel. Das künstlerisch recht unspektakuläre Zentrum der Stadt Chemnitz haben wir durchlaufen. Ziel ist das junge Studentenviertel Bernsdorf. Das Quartier erreichen wir über die Reitbahnstraße, die durch ihre kleinen Geschäfte bekannt ist. Graffiti der zahlreichen Wohngenossenschaften und Vermieter sollen zum Wohnen animieren. Denn Chemnitz besitzt mit einem Leerstand von 8 Prozent einen der höchsten in der Bundesrepublik Deutschland. Die Graffiti verschönern also nicht nur die tristen Plattenbaufassaden, sondern sollen auch potentielle Mieter anziehen.
Ebenso wie wenige Meter weiter der neu gestaltete Südbahnhof. Die brutalistisch anmutenden Betonwände der neuen Eisenbahnbrücke zeigen detailliert eine Collage der Chemnitzer Skyline. Im Zentrum steht der Uhrenturm des Wirkbau-Komplex, das sich nur wenige Meter entfernt befindet. Die dunkel gehaltenen Farben strahlen eine besondere Ruhe aus. Urheber des Kunstwerks ist Guido Günter von „Rebel-Art“.
Nur wenige Minuten die Bernsdorfer Straße stadtauswärts entlang erreichen wir den neu gestalteten Rosenplatz. Zwischen Bäumen hangelt sich ein orangefarbener Orang-Utan an einer Hausfassade der Chemnitzer Wohnungsgenossenschaft CAWG entlang. Sie hat auch auf der gegenüberliegenden Seite ein etwas zurückgesetztes Gebäude mit einem historisch anmutendem Kunstwerk versehen.
Den Abschluss des kleinen Stadt-Spaziergangs bilden an diesem Vorabend die Wandgestaltungen an den Wohnheimen des Studentenwerks Chemnitz-Zwickau. Sie bringen den studentischen (Wohn-)Alltag näher und erstrecken sich über die großen Seiten der Plattenbauten. In Zusammenspiel mit den farbigen Fassaden ergeben sich anziehende Ansichten, die sich mit dem Auge minutenlang erkunden lassen. So vergeht die Zeit wie im Flug und schneller als gedacht neigt sich der Tag und damit dieser schrille Streifzug dem Ende.
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