Wer sich mit offenen Augen durch die Kulturhauptstadt Europas 2025 Chemnitz bewegt, dem fallen die zahlreichen Garagenhöfe ins Auge. Sie sind ein Relikt aus den Zeiten der DDR, als immer mehr Fahrzeuge für den individuellen Personenverkehr unter die Leute gebracht werden sollten. Doch eine Vielzahl der genormten Betonbauten hatten und haben ganz andere Zwecke. Im Rahmen des Projektes #3000Garagen legt die Kulturhauptstadt den Fokus auf die ostdeutsche Garagenkultur. Ich habe mich auf Spurensuche begeben.
30.000 Räume zur individuellen Entfaltung
Zeitsprung. Dahin zurück als Chemnitz noch Karl-Marx-Stadt hieß. Damals galt die Stadt als Zentrum des DDR-Maschinenbaus. Moderne, ressourceneffiziente Plattenbauten schossen aus dem sozialistischen Boden wie Pilze. Zeitweise wohnten in den 1980er Jahren 315.000 Menschen in der Industriestadt. Mit dem Wohlstand sollten auch Automobile in die Familien kommen. Dafür wurden kleine und große Garagenhöfe errichtet. Zum Teil mit Wohnungen vermietet, teilweise einzeln verkauft, stieg die Zahl auf circa 30.000 Garagen an. Der Traum vom eigenen Pkw ging nicht für jeden in Erfüllung und so kam es, dass die Räume als Abstellraum, Werkstatt oder Probenraum Verwendung fanden.
Auf einer Fläche von 3 Meter x 6 Meter x 2,80 Meter entstanden kleine Orte des privaten Rückzugs und der sozialen Begegnung. Neue Alltagsgegenstände wurden erfunden, Unternehmen gegründet, Bands ins Leben gerufen. Menschen kamen und kommen zusammen. Bis heute haben die Garagen eine wichtige Bedeutung für die Pächter:innen und Besitzer:innen. Einige von ihnen sind Bestandteil des Projektes #3000Garagen innerhalb des Jahres der Kulturhauptstadt Europas. Sie öffnen ihren Rückzugsort für Interessierte und Gäste. Am Harthweg im Stadtteil Altendorf wurde Anfang Juni der Garagenkultur ein ganzes Festival gewidmet.
Vom Kronkorken-Männel bis zum Senf-Rekord
An diesem Pfingstsamstag meint es Petrus nicht allzu gut mit den Menschen in Chemnitz. Graue Wolken säumen den Himmel. Die kleine Wiese zwischen Harthweg 7 und 9 ist deshalb nur spärlich besucht. Dafür hat jede:r die Gelegenheit eine der zahlreichen Mitmachaktionen auszuprobieren. Etwa die Bastelstation beim Institut für Ostmoderne, bei der eines der populären Kronkorken-Männel gefertigt werden kann. Per Heißklebepistole verwandeln sich die Flaschendeckel in künstlerische Figuren. Ein großer Spaß – auch für die Kleinsten.
Nur wenige Meter weiter findet die Senf-Wette der Ostfluencerin Olivia Schneider aus Dresden statt. Sie veranstaltet Partizipation in Reinform: Schaffen es die Chemnitzer:innen über 30 Kilogramm Senf herzustellen? Fleißig gibt jede:r ihren/seinen Senf dazu. Und tatsächlich: Bereits Samstagabend soll das Fass voll sein. Aufgabe erfüllt. Mit den Akkordeon Harmonists sorgt nebenher eine Chemnitzer Musikgruppe mit populären Coversongs für eine ausgelassene Stimmung. Einige Besucher:innen tanzen vor den Bühne den einsetzenden Regen einfach weg.
Nur wenige Personen öffnen ihre private Garage
Aber zurück zu den Garagen, die an diesem Tag im Mittelpunkt stehen. Ein besonderes Exemplar mit farbenfrohem Graffiti dient an diesem Tag als Torwand. Der schmale Korridor maximiert die Erfolgsquote. Gleichzeitig gehören verschwundene Bälle der Vergangenheit an. Den Kindern und Jugendlichen gefällt’s. Die Älteren schlendern während dessen über die Garagenhöfe. In einigen lassen sich technische Raritäten finden, wie Schreibmaschinen oder alte Mobiltelefone. (Von Smartphones kann keine Rede sein.) Vor anderen basteln Junggebliebene an ihren Simson-Mopeds.
Doch die erhoffte Resonanz der Garagenbesitzer:innen bleibt an diesem Tag aus. Nur eine Handvoll Personen öffnen ihr privates Heiligtum. Es zeigt einmal mehr welchen Stellenwert dieser kleine Raum für die Chemnitzer:innen hat. Fremde Gäste sind nicht allzu gern gesehen. Schade, aber irgendwie auch verständlich in einer Welt voller Skepsis, Misstrauen und Missgunst. Vielleicht wäre das vor 35 Jahren noch anders gewesen. Damals, als „gesellschaftliche Spaltung“ ein Fremdwort war und sich wohl ganz Karl-Marx-Stadt über die Ernennung zur Kulturhauptstadt gefreut hätte…
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