Bereits zum dritten Mal hat sich die Innenstadt der Kulturhauptstadt Europas 2025 Chemnitz in eine überdimensionale Leinwand für farbenfrohe Lichtkunst verwandelt. In diesem Jahr wurde stärker denn je das Erscheinungsbild des brutalistisch anmutenden Zentrums diskutiert. Ich habe einige Szenen mit der Kamera festgehalten. Ein visueller Spaziergang durch Raum und Zeit.
Blaue Stunde am Roten Turm und im Stadthallenpark
Meine Erkundung des multimedialen Lichtwegs „Light our Vision“ (kurz LOV) startet unweit des beleuchteten Brunnens der Stadthalle. Es ist Punkt 19.30 Uhr als die Wände des Roten Turms erstmals in feines Licht getaucht werden. Maritime Klänge unterstreichen die Wirkung des Kunstwerks „Dissolving Boundaries“ des italienischen Kollektivs OOOPStudio. Stürmische Wellen tanzen über den historischen Backsteinbau. Ein menschlicher Körper entfaltet sich innerhalb des mehrminütigen Spektakels als treibende Kraft einer größeren Energie. Tanzend steht er nicht nur für das Leben, sondern auch für die Vergänglichkeit. Mit ihm verändert auch das Wasser unentwegt seine Gestalt, durchquert Räume und vermischt sich.
Nebenan im Stadthallenpark findet währenddessen eine ganz praktische Durchmischung statt. Denn das Kunstwerk „For iTernity“ von Katja Heitmann lädt zum Mitmachen ein. Jede:r Interessierte erhält am Eingang des Runds eine jungfräulich weiße Leinwand. Erst in Gemeinschaft erfüllt sie den Zweck einer großen Projektionsfläche. Vier Beamer geben das berühmte Ballettsolo „Der sterbende Schwan“ wieder und sorgen so für einen ganz besonderen Tanz der Betrachtenden. Mozarts „Requiem“, gesungen von der US-amerikanischen Youtuberin Trisha Paytas, untermalt die Do-It-Yourself-Performance akustisch. Ein besonderes Plädoyer für mehr Miteinander.
Von einem verträumten Karl Marx zu lebendigen Chemnitz-Visionen
Vorbei am Pentagon erreiche ich die Brückenstraße mit dem Wahrzeichen der Stadt, dem Karl-Marx-Monument und dem Relief mit der berühmten Inschrift „Proletarier aller Länder vereinigt euch“. Auch bei der diesjährigen Ausgabe des „Light Our Vision“ verwandelt sich die Büste in ein buntes Gesicht. Unter dem Titel „Dreams In Color“ erweckt das Multimedia-Künstlerkollektiv The Fox, The Folks die Büste zum Leben. Ein verschlafenes Nussknacker-Gesicht verwandelt sich in abstrakte Muster und Schemen. Es entstehen traumhafte Bildwelten, die zum Träumen, Reflektieren dun Imaginieren einladen. Alles endet abrupt mit dem Klang des Weckers und einem kunterbunten Nachtraum.
Um bunte Träume geht es auch auf der anderen Seite des liebevoll „Parteisäge“ bezeichneten alten Gebäude der SED-Bezirksleitung. Ein farbenprächtiges Tor öffnet den Zugang zur Klang- und Bildinstallation „Chronoportale“ der Gruppe Urbanscreen. An sechs verschiedenen Orten erwachen die Wünsche der jungen und alten Chemnitzer:innen zur Stadtentwicklung zum Leben. Dabei kommen Planer:innen ebenso zu Wort und Bild wie Kulturschaffende, Studierende und Kinder. Der Konsens ist eindeutig: Vielfältige Freizeitangebote, grüne Parkflächen und sehenswerte Architektur bestimmen die Interviews. Per Künstlicher Intelligenz landen die Visionen an den Wänden. Und bringen nicht nur mich zum Nachdenken.
Zwischen Maschinenbau-Historie und fragilen Naturprojektionen
Unter eine bunte Farbdusche an der Käthe-Kollwitz-Straße führt der Lichtkunstweg weiter zum Theaterplatz und dem illuminierten Opernhaus. Das ikonische Gebäude fungiert als Leinwand für das Kunstwerk „Mechanical Opera“ des polnischen Künstlers Ari Dykier. Im Vintage-Stil erweckt er mithilfe der musterhaften Collagentechnik natürliche Elemente, aber auch technische Bauteile und orchestrierte Roboter zum Leben. Damit schafft er einen Raum, um das Spannungsfeld zwischen historischer Kultur sowie Architektur und technologischem Fortschritt zu reflektieren.
Auf dem angrenzenden grünen Schillerplatz sorgt unter anderem Rodrigo Guzman Cazares mit seinem Werk „Unstabile Fractal Orbs“ für Wow-Effekte. Ein Algorithmus erstellt fortlaufend digitale Gebilde, sogenannte Fraktale, die auf analoge Bäume treffen. Es entstehen symmetrische Artefakte, die inmitten der Natur zu schweben scheinen. Nebenan zieht Jonas Vogts Arbeit „DIP“ die Menschen in den Bann. Bereits 2024 an der Stadthalle präsentiert, hat der Lichtballon dieses Jahr im Zentrum des Parks seinen Platz gefunden. Im 30-Minuten-Turnus gibt er mit seinem pulsierenden Licht den Zyklus der Sonne wieder. Eine überaus atmosphärische Intervention im städtischen Raum, die das alltägliche Naturschauspiel in den Mittelpunkt der Wahrnehmung rückt.
Den großen Abschluss des Rundgangs bildet die neue Universitätsbibliothek in der sanierten alten Aktienspinnerei. Auf der Fassade des Chemnitzer Wissenszentrums erstrahlt unter dem Titel „Engines of Light“ die hiesige Geschichte der vielfältigen Industriekultur. Gedankenblitze verdeutlichen die Geburtsstunde der Ideen eindrucksvoll. Die indische Künstler:innen-Gruppe Magical Theatre zeigt opulente Werkhallen, bedeutende Erfinder:innen und ihre innovativen Konstruktionen. Mir fällt auf, dass der Fokus auf nachhaltigen Mobilitätslösungen wie dem Fahrradverkehr und der (Straßen-)Bahn liegt. Bleibt zu hoffen, dass aus den farbenfrohen Projektionen in Zukunft Realität wird. Irgendwann. Man wird ja wohl noch träumen dürfen…
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