Wie man den zahlreichen leerstehenden Gebäuden in Chemnitz neues Leben einhauchen kann, zeigt alljährlich das Kunstfestival Begehungen. Bereits zum 21. Mal strömten dutzende Künstler:innen aus dem In- und Ausland in die Industriestadt und verschönerten in den Sommermonaten ein brachliegendes Bauwerk. Bei der diesjährigen Ausgabe stand unter dem Motto “Kippeln” der Protest in der zeitgenössischen Kunst im Fokus. Nach meinem letzten Besuch vor vier Jahren in einer alten Kaufhalle war ich nun 2024 auf dem Gelände der ehemaligen CSM-Schule im Stadtteil Gablenz mit der Kamera unterwegs. Einige Eindrücke.
Künstlerische Bildung im ehemaligen Zentrum des Chemnitz Schulmodells
Ende der 1980er Jahre rumort es in der Deutschen Demokratischen Republik. Die Menschen sind unzufrieden mit dem kommunistischen Staat. Und auch mit dem strengen Bildungssystem. Deshalb versammelt sich eine Gruppe von Bürger:innen in Chemnitz, um das indoktrinierende Schulkonzept zu reformieren. Noch vor dem eigentlichen Start fiel die Mauer zwischen der Bundesrepublik und der DDR. Doch die Idee reifte weiter und am 01. September 1990 wurde das neue Chemnitzer Schulmodell (kurz CSM) als Ort für fortschrittliches Lernen und Lehren eröffnet.
Noch heute befindet sich das backsteinrote Gründungsgebäude an der Charlottenstraße 52. Seit seiner Schließung aufgrund baulicher Mängel im Jahr 2012 steht es leer und verfällt zunehmend. Der perfekte Ort also um urbane Kunst in ihrer Schönheit, aber auch ihrer Kontroversen zu zelebrieren. Insgesamt 23 Werke verwandeln die ehemalige Albrecht-Dürer- beziehungsweise Charlottenschule an zwei Wochenenden in ein zeitgenössisches Museum. Dabei werden sie flankiert von Konzerten, Lesungen, Diskussionen und Darstellungen. Während einer Führung gibt es Wissenswertes zum geschichtsträchtigen Ort und den raumfüllenden Kunstwerken.
Mannigfaltiger Protest als Hauptthema der 21. Begehungen
Als ich die ersten Stufen in das imposante Backsteingebäude hinein trete, begrüßen mich an den Wänden viele bunte Hände. Die Hände von ehemaligen Schüler:innen, wie ich wenig später erkenne. Sie sorgen für eine warme, herzliche Begrüßung. Doch hinter den Türen zu Lehrerzimmer, Klassenraum und Toilette wartet aufwühlende zeitgenössische Kunst. Sie thematisiert in diesem Jahr den Protest in seiner mannigfaltigen Art. Es geht um Frauen- und Menschenrechte sowie Klimaschutz, aber auch um die Corona-Proteste. Zeichnungen, Fotografien, Drucke und Installationen erinnern an historische Begebenheiten und regen zum intensiven Nachdenken an. Es gilt den Blick auf die unangenehmen Dinge zu richten.
Das abendliche Licht- und Schattenspiel an den alten Mauern spiegelt sich auch in der Stimmung wieder. Denn zur gleichen Zeit nutzen Ehemalige die Gunst der Stunde, um im alten Gebäude, dem Schulhof und der angrenzenden Sporthalle zu flanieren und in Erinnerungen zu schwelgen. In einer Diskussionsrunde berichtet etwa Ex-Oberbürgermeisterin und CSM-Mitgründerin Barbara Ludwig von den ersten Jahren, in denen das offene, staatliche Schulkonzept ohne Zensuren und Klingel eine Revolution darstellte. Rund 50 Menschen, darunter viele CSM-Schüler:innen und -Lehrer:innen, lauschen gespannt und schwärmen von einer prägenden Zeit. Einer Zeit, in der sich Persönlichkeiten entwickelten, Selbstständigkeit und Kreativität ausbildete.
Diese Kreativität zieht an diesen Tagen der Begehungen optisch und akustisch in die ehemalige Charlottenschule ein. Das Motto „Kippeln“ zeigt sich in vielen Details: Sei es an bunt gestalteten, „kippeligen“ Schulstühlen, einer ambivalenten Stimmung oder den künstlerischen „Kipp-“Punkten der Proteste. Schön, dass es in Chemnitz dieses kleine, charmante Festival für außergewöhnliche Kunst gibt. Es ist für mich – neben der IBUG – eines der wichtigen Bausteine der Kunstszene für die Kulturhauptstadt Europas 2025. Ich freue mich schon auf nächstes Jahr.