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Bedenkenswerte Begehungen im Heizkraftwerk Nord.

Chem­nitz kann kri­ti­sche Kunst. Bereits zum 22. Mal lädt das Kunst­fes­ti­val Bege­hun­gen mit krea­ti­ven Instal­la­tio­nen in ein altes, unge­nutz­tes Gelän­de inner­halb des Stadt­ge­bie­tes ein. Im Kul­tur­haupt­stadt­jahr haben Künstler:innen aus der ganzen Welt das ehe­ma­li­ge Heiz­kraft­werk Nord in ein über­di­men­sio­na­les Kunst­werk ver­wan­delt. Ich war auf dem Areal rund um den far­ben­fro­hen Schorn­stein, lie­be­voll Lulatsch genannt, mit der Kamera unterwegs.

Ein altes Heizkraftwerk als Symbol des Wandels

Nach­dem das Kunst­fes­ti­val Bege­hun­gen in einer alten Kauf­hal­le, einer ehe­ma­li­gen Schule, aber auch in einer grünen Klein­gar­ten­sied­lung und einer still­ge­leg­ten Braue­rei Heimat fand, fiel die Wahl im Kul­tur­haupt­stadt­jahr auf das abge­schal­te­te Heiz­kraft­werk Nord im Stadt­teil Furth. Ab 1957 wurde der Kom­plex sowohl für die Strom- als auch für die Fern­wär­me­ver­sor­gung genutzt. Mit dem Errich­ten der sozia­lis­ti­schen Plat­ten­bau­ge­bie­te stieg der Bedarf rasant, sodass in der maxi­ma­len Aus­bau­stu­fe drei Blöcke mit jeweils 160 Mega­watt Wär­me­ab­ga­be und 60 Mega­watt elek­tri­scher Leis­tung zur Ver­fü­gung stan­den. Als Ener­gie­trä­ger fand in den Blö­cken B und C Braun­koh­le Ver­wen­dung, wäh­rend Block A auch mit Erdgas und leich­tem Heizöl betrie­ben werden konnte.

Um die Anwoh­nen­den zu scho­nen, galt es die Rauch­ga­se auf mög­lichst ver­träg­li­che Weise abzu­lei­ten. Zwi­schen 1979 und 1984 wurde des­halb auf dem Gelän­de ein 302 Meter hoher Schorn­stein gebaut. Dabei bedach­ten die Ingenieur:innen nicht, dass sich Stick­stoff- und Schwe­fel­di­oxi­de im Regen­was­ser lösten und den soge­nann­ten „Sauren Regen“ ver­ur­sach­ten. Erst im Jahr 1995 schaff­te eine Rauch­gas­ent­schwe­fe­lungs­an­la­ge Abhil­fe. Lange Zeit fris­te­te der Lulatsch, wie er von den Ein­hei­mi­schen genannt wird, sein Dasein als häss­li­ches Ent­lein. Bis der fran­zö­si­sche Künst­ler Daniel Buren im Jahr 2013 einen neuen Farb­an­strich ver­pass­te. Eins Ener­gie in Sach­sen bezeich­net es als das höchs­te Kunst­werk der Welt. Nach­prü­fen lässt sich das schwer. Zumin­dest ist es bis heute das höchs­te Bau­werk in Sach­sen.

Auf­grund der hohen Schad­stoff­emis­sio­nen von eine Mil­li­on Tonnen CO2 pro Jahr schal­te­te der Betrei­ber das Heiz­kraft­werk Nord am 18. Januar 2024 voll­stän­dig ab. Es war der größte Emit­tent des kli­ma­schäd­li­chen Gases in der Region. Seit­dem kommen Gas­kraft­wer­ke zum Ein­satz, die den CO2-Aus­stoß um 60 Pro­zent ver­rin­gern. Seit­dem liegt das Gelän­de zwi­schen Chem­nitz­tal- und Blan­ken­burg­stra­ße Brach. Mit dem Kunst­fes­ti­val Bege­hun­gen zieht nun wieder Leben in die indus­tri­el­len Hallen ein.

Klimawandel und Raubbau an Natur und Mensch als Motto

Die Wahl des ehe­ma­li­gen Gebäu­de­kom­ple­xes zur Erzeu­gung für Wärme und Ener­gie kommt nicht von unge­fähr. Zwar ist der Eigen­tü­mer Eins Ener­gie in Sach­sen einer der gol­de­nen Spon­so­ren des Kul­tur­haupt­stadt­jah­res. Jedoch bildet das Heiz­kraft­werk mit seiner kli­ma­schäd­li­chen Vor­ge­schich­te einen gran­dio­sen Rahmen für die kos­ten­freie Aus­stel­lung mit dem tref­fen­den Titel „Ever­y­thing is Inter­ac­tion“ (zu deutsch: Alles ist Wech­sel­wir­kung). Das Zitat geht auf den Natur­for­scher Alex­an­der von Hum­boldt zurück, der auf seiner Ame­ri­ka-Reise zwi­schen 1799 und 1804 men­schen­ge­mach­ten Holz- und Was­ser­man­gel beobachtete.

Die hum­boldt­sche Erkennt­nis der Wech­sel­wir­kun­gen in der Natur lässt sich schon damals weit über den Natur­be­griff hinaus anwen­den. Etwa auf die sys­te­ma­ti­schen Aus­beu­tungs­struk­tu­ren, auf Armut auf der einen und Reich­tum auf der ande­ren Seite. Auf einer Fläche von einem Hektar beleuch­ten in 32 Werken Kunst­schaf­fen­de kom­ple­xe The­men­stel­lun­gen wie Res­sour­cen­ver­brauch, Arten­ver­lust und Kli­ma­kri­se. Aber auch Gerech­tig­keits- und Macht­fra­gen und der damit ver­bun­de­ne gesell­schaft­li­che Zwie­spalt werden thematisiert.

Son­nen­un­ter­gang auf dem Fes­ti­val­ge­län­de der Bege­hun­gen 2025.

Audio-visuelle Kunstwerke lassen die Gedanken wandern

Direkt zu Beginn der Aus­stel­lung ver­setzt die deutsch-japa­ni­sche Fil­me­ma­che­rin Hito Stey­erl inner­halb einer der Deio­nat­be­häl­ter in Erstau­nen. Sie lässt in ihrem Werk „Green Screen“ in Bier­käs­ten leben­de Pflan­zen ‚spre­chen‘, indem sie bio­elek­tri­sche Signa­le in Licht und Ton ver­wan­delt. Ein ebenso beein­dru­cken­des Erleb­nis wie das der Deutsch-Korea­ne­rin Anne Dun Lee Jordan. Sie ent­führt uns Besucher:innen in die Tiefen des Ozeans mit über­di­men­sio­na­len Sil­hou­et­ten von Phy­to­plank­ton auf trans­lu­zen­ten Stoff­bah­nen. Dazu gesel­len sich dumpfe Töne von Wal­ge­sän­gen, Atem­ge­räu­schen und Motorbooten.

In den großen Hallen des Heiz­kraft­werk Nord lassen sich zahl­rei­che kleine Werke finden. Beson­ders ein­drucks­voll ist die Guten­berg-Presse „Hoax Print“ des Slo­wa­ken Borek Brin­dák. Er ver­an­schau­licht die gefähr­li­che Ent­wick­lung hin zur Des­in­for­ma­ti­on. Beson­ders wis­sen­schaft­lich fun­dier­te Erkennt­nis­se zum Kli­ma­wan­del werden online durch Falsch­in­for­ma­tio­nen unter­gra­ben. Neben­an lässt sich der ener­gie­spen­den­de Brenn­stoff Kohle in Form des struk­tu­rier­ten Werks „Kula: Cuts“ von Nadia Kaabi-Linke betrach­ten. Das Wort Kula ver­weist zudem auf ein zere­mo­ni­el­les Tausch­sys­tem der Tro­bri­and-Inseln, das auf nach­hal­ti­gem Aus­tausch und sozia­ler Bin­dung basiert.

Über allem hängen über­di­men­sio­na­le Tetra­po­den der Künst­ler Abie Frank­lin und Daniel Hölzl unter dem Titel „Bycatch“. Eigent­lich Wel­len­bre­cher aus Beton, erschei­nen die luft­ge­füll­ten Hüllen schwe­re­los unter dem Hal­len­dach. Sie stehen für die öko­lo­gi­schen und poli­ti­schen Gren­zen unse­rer Zeit: für den Ver­such, Natur zu kon­trol­lie­ren und sie den­noch nicht bän­di­gen zu können. Gleich­zei­tig the­ma­ti­siert das Werk den unbe­ab­sich­tig­ten Bei­fang des indus­tri­el­len Fisch­fangs. Eines meiner High­lights dieser Halle ist die Instal­la­ti­on „Pech und Blende“ der Vene­zue­la­ni­schen Künst­le­rin Ana Alenso. Zwei Ori­gi­nal-Bohr­häm­mer aus der Grube in Schle­ma stehen sich fron­tal gegen­über. An der Spitze zwei Gewehr­pa­tro­nen. Eine ein­drucks­vol­le Visua­li­sie­rung geo­po­li­ti­scher Kon­flik­te in Hin­blick auf Res­sour­cen­si­che­rung, Macht­po­li­tik und mili­tä­ri­scher Strategie.

Menschengemachte Tragödien in Flora und Fauna lassen erschaudern

In der Halle neben­an regen Werke über den Ein­fluss des Men­schen auf die Umwelt zum Nach­den­ken an. Unweit des Roll­tors hängt an einem Kran die Instal­la­ti­on „Rom­pi­en­do el Mar (Broken Sea)“ der mal­lor­qui­ni­schen Künst­le­rin Amparo Sard. Es basiert auf aus dem Mit­tel­meer gebor­ge­nen Plas­tik­müll, den sie ein­schmolz und mit Epoxid­harz ver­band. Ergeb­nis ist ein schwar­zer Stein, der für eine Natur im Kol­laps steht. Das Inne­hal­ten wird gestört von eben­sol­chen Klän­gen, die durch die Halle schal­len. Sie gehö­ren zum Werk „The Car­ri­on Cheer, A Fau­ni­stic Tra­ge­dy“ des Künst­ler-Duos Böhler & Orendt. Dabei han­delt es sich um ein ima­gi­nä­res Camp, in dem neun Abbil­der aus­ge­stor­be­ner Tiere erschei­nen. Die geis­ter­haf­ten Pro­jek­tio­nen rich­ten sich mit schau­ri­gen Gesän­gen an die Mensch­heit. Angsteinflößend.

Die Öster­rei­che­rin Katha­ri­na Sau­er­mann hält der auto­lie­ben­den, deut­schen Gesell­schaft den Spie­gel vor. Ihre Kom­po­si­ti­on „Die Luft­qua­li­tät ist schlech­ter als ges­tern zu dieser Zeit“ macht die ver­bor­ge­ne Prä­senz von Fein­staub sicht­bar. Aus dem Stutt­gar­ter Stadt­raum hat sie den Schad­stoff sedi­men­tie­ren lassen und so Umwelt­ver­schmut­zung sinn­lich erfahr­bar gemacht. Nicht weni­ger bedrü­ckend ist die 3‑Ka­nal-Video­in­stal­la­ti­on „Stork, a Sacket Bird“ der pol­ni­schen Künst­le­rin und For­sche­rin Diana Lelo­nek. Sie beglei­tet eine Weiß­storch­po­pu­la­ti­on auf der größ­ten Müll­de­po­nie des Ost­see­raums Get­liņi bei Riga. Die Tiere werden unge­fragt Teil eines Sys­tems aus Abfall, Konsum und Umwelt­zer­stö­rung. Bedrückend.

Noch einen Schritt weiter geht die ukrai­ni­sche Künst­le­rin Elza Guba­no­va. Sie stellt in „Notes on Eco­ci­de“ die öko­lo­gi­schen und juris­ti­schen Dimen­sio­nen kriegs­be­ding­ter Umwelt­zer­stö­rung in den Mit­tel­punkt. Die doku­men­ta­ri­sche und for­schungs­ba­sier­te mul­ti­me­dia­le Instal­la­ti­on zeigt, aus­ge­hend von der Zer­stö­rung des Kachow­ka-Stau­damms in der Ukrai­ne, wie Land­schaf­ten durch Gewalt geprägt werden. Schön, dass Uriel Orlow in „Forest Futu­rist“ die Chan­cen und Mög­lich­kei­ten des Waldes beleuch­tet. Er lädt ein den Wald als leben­di­gen Wis­sens­spei­cher neu zu denken. Etwa in Form von abs­trak­ten Musikinstrumenten.

Plätschernde Wasserspiele und Signale aus der Meerestiefe lassen inne halten

Nach all den ober­ir­di­schen Themen stel­len Künstler:innen in der abge­dun­kel­ten Neben­hal­le das Wasser in den Mit­tel­punkt. Raum­grei­fend ragt im hin­te­ren Teil die Mix­me­dia-Instal­la­ti­on „Lluvia“ des kolum­bia­ni­schen Krea­ti­ven Daniel Otero Torres empor. Er rückt die öko­lo­gi­schen und sozia­len Folgen des ille­ga­len Gold­ab­baus im kolum­bia­ni­schen Ama­zo­nas­ge­biet ins Zen­trum der Betrach­tung. Sachte plät­schert Wasser aus sechs Meter Höhe über meh­re­re Sta­tio­nen herab. Auf seinem Weg durch­fließt es blaue Tonnen. Sie stehen für die queck­sil­ber­hal­ti­gen Rück­stän­de aus den gewinn­brin­gen­den Minen. Trotz hoher Nie­der­schlags­men­gen ist der Zugang zu sau­be­rem Trink­was­ser dort stark ein­ge­schränkt. Das Werk zeigt einmal mehr die struk­tu­rel­le Ungleich­ver­tei­lung lebens­wich­ti­ger Res­sour­cen und stellt eine Ver­bin­dung zu kul­tu­rel­ler Iden­ti­tät und öko­no­mi­schen Inter­es­sen her.

Neben­an ent­führt die Kom­po­si­ti­on „The Archi­ve of the Arctic Echoes“ der nie­der­län­di­schen Künst­le­rin Sarah Damai Hoog­man in die Tiefen des ark­ti­schen Ozeans. Sie macht die unsicht­ba­re, aber dring­li­che Umwelt­ver­än­de­run­gen in Form von realen Klän­gen von Methan­bla­sen erfahr­bar. Kleine LEDs offen­ba­ren den Ort der Auf­nah­me. Es ent­steht eine rhyth­mi­sche Klang­land­schaft, die durch sen­so­ri­sche Inter­ak­ti­on mit dem Publi­kum dif­fe­riert. Rück­kopp­lungs­ef­fek­te zwi­schen mensch­li­cher Akti­vi­tät und Umwelt­ver­än­de­rung werden so erlebbar.

Dieser Ein­fluss zeigt sich auch in den beiden Kunst­wer­ken „Vir­gins Land“ und „Shape of the Shore“ von Johan­na Reich. Wie eine Fahne weht die gol­de­ne Ret­tungs­de­cke in den Händen der Künst­le­rin an einer schein­bar unbe­rühr­ten Küste. Doch die ist längst durch mensch­li­che Ein­grif­fe gezeich­net – nicht zuletzt durch glo­ba­le Emis­sio­nen. Die werden in den foto­gra­fi­schen Über­la­ge­run­gen sicht­bar. Auf Basis von Daten der Orga­ni­sa­ti­on Cli­ma­te Cen­tral hat Reich die aktu­el­len und zukünf­ti­gen Küs­ten­li­ni­en über­la­gert. In Hin­blick dessen bekommt auch die Ret­tungs­de­cke eine wei­te­re Bedeu­tungs­ebe­ne. Sie fun­giert als schil­lern­des Symbol von Ver­lust und Verletzlichkeit.

Begehungen macht die Magie der Luft in Bild und Ton erlebbar

An der Außen­sei­te des beein­dru­cken­den Reak­tor­ge­bäu­des, zwi­schen den Trep­pen­auf­gän­gen hin zum Dach, hat der Japa­ner Rikuo Ueda seine Arbeit „A Letter from the Wind“ instal­liert. An Fäden und Stäben mon­tier­te Stifte hin­ter­las­sen durch Wind­be­we­gun­gen zeich­ne­ri­sche Spuren, die zur Inter­pre­ta­ti­on ein­la­den. Sie sind unvor­her­seh­bar als auch ein­zig­ar­tig und machen die Kräfte der Natur sicht­bar. Schön, dass wir Men­schen Metho­den gefun­den haben, diese umwelt­freund­li­chen Ener­gien sinn­voll zu nutzen.

Die kleine Ent­de­ckungs­tour durch das Heiz­kraft­werk Nord gip­felt in der Bege­hung des wuch­ti­gen Kühl­turm 1 im Norden des Gelän­des. Die große Wand wirkt wie ein großer Reso­nanz­raum, der jeden Ton ver­stärkt und als Echo zurück wirft. Natür­lich beher­bergt er des­halb eine beein­dru­cken­de Klang­in­stal­la­ti­on. Mit ihrer Instal­la­ti­on „Aura Dis­si­pa­ti­on“ ver­wan­delt das ita­lie­ni­sche Künst­ler-Duo Vale­ria Zane und Victor Neb­bio­lo di Castri den Raum in ein akus­ti­sches Erleb­nis­feld. Auf dem Boden plat­zier­te Laut­spre­cher senden elek­tro­akus­tisch ver­frem­de­te Har­fen­klän­ge in die Weite des über­di­men­sio­nier­ten Hall­raums, wo sich jede Schwin­gung mit der Archi­tek­tur verbindet.

Ein wür­di­ger Abschluss für ein Kunst­fes­ti­val, das erneut beweist, wie stark die Ver­bin­dung von Ort und inhalt­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung sein kann. Noch bis zum 17. August gibt es zwi­schen 12 und 20 Uhr die Gele­gen­heit die Sym­bio­se zwi­schen Heiz­kraft­werk und Instal­la­tio­nen selbst zu erleben.


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